Ich habe nur noch einen letzten Wunsch: Ich möchte das Zuhause meiner Enkelin sehen
Wenn wir diesen Satz lesen, vermuten wir eine Person, die am Ende ihres Lebens steht. Im Falle von Regina Poller ist es keineswegs so – Regina ist eine lebensfrohe gesunde 84-Jährige, die ein Haus in Schuss hält, den Garten pflegt, für die Familie kocht und ihr Umfeld stets mit einem Lächeln begrüßt. Sie steht mitten im Leben und ist ein echtes Vorbild. Doch weshalb dann nur ein letzter Wunsch? Die Antwort ist das schlechte Gewissen. Regina und Rainer Poller sind seit 64 Jahren verheiratet. Doch sie teilen das Schicksal vieler Paare, die im hohen Alter noch zusammen sind. Ein Partner ist geistig und körperlich topfit, der andere braucht Hilfe. So auch in unserem Fall. Regina – die Frohnatur, der Wirbelwind und der Fels in der Brandung – kümmert sich Tag um Tag um ihren Rainer. Er leidet seit einer Prostata-Krebs-Diagnose nach der Operation zunehmend an Demenz und Inkontinenz. „Die Tagespflege ist hier eine super Unterstützung. Durch sie habe ich Lebensfreude wiedererlangt, ich kann in Ruhe das Haus auf Vordermann bringen, einkaufen gehen und auch meinen Kopf fit halten. Ein besonderes Highlight zweimal im Jahr ist der Tagesauflug mit dem Bus. Dann tauche ich in Kultur und Geschichte ein. Meine Tochter begleitet mich“, schwärmt sie.
Als Regina dann vor zwei Jahren vom Hauskauf ihrer Enkelin in Spanien erfährt, ist sie ganz außer sich. Übers Handy wird sie nun regelmäßig mit den schönsten Naturbildern versorgt, von gutem Essen und auch Videos mit spanischer Musik. „Dann schwelge ich immer in Urlaubserinnerungen. Rainer und ich waren echte Reisefans. Nach der DDR-Zeit waren wir an den schönsten Orten der Welt: bei den wilden Tieren Gambias, zur Mandarinenernte in Kroatien, wandern in den hohen Bergen Südtirols und der Schweiz, bei den blauen Fjorden in Norwegen, auf Nilkreuzfahrt – ich habe alles geliebt. Als Rainer später nicht mehr so gern wegwollte, reiste ich mit meiner Enkelin und meiner Schwiegertochter, Weiberurlaub sozusagen. Dann erkundeten wir Städte: Rom, Sevilla, Berlin und mit 73 Jahren dann New York, Dubai, Abu Dhabi. Verrückt! Ich auf dem Broadway und in der Wüste. Wenn heute im Fernsehen darüber berichtet wird, erkenne ich viele Plätze wieder. Erinnerungen sind doch etwas Herrliches. Ich bin so froh, dass ich diese Reisen gemacht habe. Da zehre ich heute von“ schweift Regina Poller ab. Ihre Enkelin lädt sie schließlich nach Spanien ein – so wie früher. Doch das scheint Regina unmöglich. „Wie soll das gehen? Ich kann Rainer nicht eine Woche bei den Kindern lassen. Sie arbeiten ja alle und mit der Inkontinenz möchte ich ihnen das nicht zumuten. Aber das Haus in Spanien sehen – das wäre trotzdem mein letzter Wunsch. Aber ich habe einfach ein schlechtes Gewissen Rainer eine Woche allein zu lassen“. Doch alle Kinder sind sich einig, auch Regina Poller muss einmal Ferien machen, sich eine Auszeit nehmen von der täglichen Arbeit, vom Kümmern und auch von den Sorgen. Nach kurzen Internetrecherchen war die Lösung gefunden: Verhinderungspflege. „‘Das ist sowas wie Urlaub bei Oma für Schulkinder oder eine Hundepension für die vierbeinigen Lieblinge, aber eben für Ältere, die bis zu 24 Stunden Unterstützung brauchen‘ erklärte mir unser Sohn und legte mir im gleichen Atemzug Flugtickets für sich und mich nach Spanien und die Anmeldung von Rainer zur Verhinderungspflege vor. Ich war völlig perplex und auch unsicher. Sollte ich das wirklich machen? Ich hatte ein unendlich schlechtes Gewissen und die Entscheidung hat mich wirklich gequält.“ erinnert sich Frau Poller.
„Aber zurückblickend war das perfekt. Rainer genoss – genau wie ich – eine Woche Urlaub, aber eben in der Verhinderungspflege. Die hellen modernen Räume seines eigenen schönen Appartements mit Blick in den grünen Garten haben ihm sehr gefallen und auch das abwechslungsreiche Tagesprogramm mit leckerem Frühstück und seiner Lieblingsleberwurst, geselligen Männerrunden und Fußballthemen, Rommee-Wettbewerben, Tanzabenden, Gedächtnistrainings, das fand er sogar amüsant. Auch das Zeitunglesen, was ich daheim übernehme, hat er in unseren täglichen Telefonaten mehrmals erwähnt. Nur an das Essen, was eigentlich aus dem Restaurant des Hauses kommt und etwas ganz Besonderes ist, konnte er sich durch seine Demenz nicht erinnern. Er sprach öfter von den herzlichen Pflegerinnen und Pflegern und dem netten Herrn, der direkt gegenüber wohnte. In seiner Stimme hörte ich Zufriedenheit und das ließ mich auch meinen Urlaub genießen.
Spanien war Wahnsinn. Bei der Ankunft ging es direkt ans Meer zu einer kleinen Strandkneipe. Meerluft und Sangria – wie lange hatte ich das nicht mehr genossen? Ich konnte meine Freude gar nicht in Worte fassen. Am nächsten Tag spazierten wir barfuß am Strand im Sand, gingen Tapas essen und Artischockenherzen, das hatte ich noch nie probiert. Auf dem Dorfmarkt kauften wir Serrano-Schinken, Knoblauch-Käse, Oliven, Sobrasada – diese spanische Paprikawurst zum Streichen, Avocados, Mangos und frische Orangen, wie das in Spanien schmeckt, können Sie sich ja vorstellen! Zwischendurch entspannten wir uns immer wieder auf der Terrasse mit Blick auf den Bergriegel und die drei Generationen quatschten über Gott und die Welt, Erinnerungen an lustige und schwere Zeiten und auch über die Zukunft. Das war traumhaft schön. Lange ist es her, dass ich so abschalten konnte. Vor allem durfte ich selbst nur entspannen und genießen. Mein Sohn und meine Enkelin kochten, organisierten alles, hofierten und chauffierten mich. Ruhe: Das kannte ich gar nicht mehr. Ein Ausflug nach Valencia zum Expo-Gelände befriedigte dann sogar mein kulturelles Interesse. Und am letzten Tag, da wollte ich es wissen. Der Montgó – der wunderschöne 800 Meter hohe Berg, auf den ich täglich blickte. Ich wollte oben stehen und auf das Meer sehen. Und so wanderten wir – ich, mein Sohn, meine Enkelin und unser vierbeiniger Schatz – wie früher ganz nach oben und beim Abstieg hörte ich von hinten: ‚jetzt renn‘ doch nicht so schnell bergab‘“ erzählt sie stolz, lacht laut und fügt hinzu: „Ich habe mir mit dieser Reise meinen letzten Traum erfüllt und zudem neue Energie getankt für meinen Rainer.“