Sie sind hier: Magazin 9 Lebensraum 9 Von Neuen Alten und Jungen Wilden

Von Neuen Alten und Jungen Wilden

Und wie sie von Marken falsch verstanden werden

Verfasst von Stephanie Hollaus

Es gibt meines Erachtens kaum einen Markt, der so unterschätzt bzw. falsch eingeschätzt wird wie der Seniorenmarkt. Als ich vor zahlreichen Jahren anfing, die Bedürfnisse der Menschen in diesem Markt zu erforschen und sie in das „Genre der Marktforschung“ zu integrieren, wurde ich mitleidsvoll belächelt. „Was sollte man denn in diesem vermeintlich unattraktiven Markt erforschen, in dem es doch sowieso nur um Inkontinenz ginge“.  Sehr schnell begriff ich, dass dieser Markt voller falscher Altersbilder und von verzerrten Begrifflichkeiten geprägt war. Da hatten sich also nicht nur falsche Stereotype in den Köpfen der Menschen festgesetzt, sondern auch seitens der Unternehmen und Anbieter von Produkten und Dienstleistungen wurde nichts unternommen, diesem schlichtweg falschem und schlechtem Image entgegenzuwirken.

Attraktive Frau

Wir Marktforscher denken in Zielgruppen und fragen uns tagtäglich, welche Menschen sich in einem Markt tummeln, welche Produkte oder Dienstleistungen sie brauchen bzw. wie Produkte und Dienstleistungen gestaltet sein müssen, um gut im Leben zurechtzukommen?

Aus Sicht der Ageing- & Pflegemarktforschung gibt es aktuell folgende relevante Zielgruppen: zum einen immer noch die alten ALTEN, die zukünftig Neuen ALTEN, welche sich im Zuge des Alterungsprozesses umsorgen lassen wollen. Zum anderen examinierte Fachkräfte, welche auf dem Weg in die Hochaltrigkeit professionelle Services anbieten, um die bestmögliche Lebensqualität für ihre Klienten sicherzustellen. Aber auch die Generation an Angehörigen und pflegenden Angehörigen ist eine wichtige Zielgruppe für Unternehmen, da sie im Hier und Jetzt Investitions- und Kaufentscheidungen maßgeblich mit beeinflussen oder tätigen, sei es entweder in der privaten Häuslichkeit zur Versorgung ihrer Familienmitglieder oder in beratender Form, wenn es darum geht, für Eltern o.ä. das geeignete Lebens- und Versorgungsmodell im Alter zu finden.

Alte ALTE & neue ALTE

Wir alle kennen die alten Alten (bis ca. 1949). Ich denke bei dieser Generation sehr gerne an meine eigene Großmutter, eine bescheidene Frau mit der typisch „grau-weißen Dauerwellen-Einheitsfrisur“ und Kittelschürze, in der sie mich an den Sonntagen zu Klößen und Braten empfing, im Badezimmer Kölnisch Wasser und Melissengeist.  Die Kriegsgeneration, die sich selbst vollständig zurücknahm, sich kaum etwas gönnte, gespart, gearbeitet und Kinder großgezogen hat und absolut keinerlei Anspruch an Ästhetik oder die schönen Dinge im Alltag erhob. Sie lebten nach dem Prinzip der Einfachheit und strebten primär nach Sicherheit und Ruhe. Diese Lebenseinstellung spiegelte sich auch im Angebot von Unternehmen bis hin zu Pflegeheimen wider: SATT & SAUBER als Maxime der früheren Einrichtungen. Ich erinnere mich noch gut daran, als ich Anfang der 80er Jahre als Kind eine Cousine meiner Oma in einem klassischen Altenheim besuchen musste. In meiner Erinnerung war alles düster, muffelig, karg, einsam, langweilig und die Bewohner schienen von der Außenwelt abgeschnitten. Eine zielgruppen-adäquate Ansprache seitens der Anbieter von Produkten und Dienstleistungen schien bzw. scheint für diese Generation bis zum heutigen Tage eher irrelevant.

Generation "Neue Alte"

»Die neuen Alten – eine Generation mit Ansprüchen an Ästhetik, Wohlbefinden, Lifestyle und Prävention.«

Die neuen Alten (Jahrgang 1950+) – teilweise in der Rolle der kümmernden oder pflegenden Angehörigen – sind das genaue Gegenteil ihrer Elterngeneration: ausgeprägte Individualisten in allen Bereichen des Lebens, konsumfreudig, aktiv, reise- und digitalaffin, mit hohen Ansprüchen an Ästhetik, Wohlbefinden, Lifestyle und Prävention. In meinen Marktforschungsstudien mit Angehörigen habe ich immer wieder gehört, dass man auf gar keinen Fall so öde leben will wie die eigenen Eltern. Die Unternehmen haben darauf reagiert und unzählige Angebote für die sogenannten „Silver Agers“ auf den Markt gebracht. Ein wichtiger und richtiger Schritt – doch ich frage mich, warum Unternehmen weiterhin Strategien entwickeln, welche die Menschen jenseits der 80+ als kaufkräftige Konsumenten vergessen? Die zukünftigen „White Agers“ werden auch in der Hochaltrigkeit nicht aufhören, individuell zu leben und zu konsumieren. Für das Thema „Wohnen“ würde das beispielsweise bedeuten, dass man ganzheitlicher denkt und Lebensspannen von 65-95 ins Auge fasst. Vielleicht mag man mit 65 Jahren noch einmal in eine Wohnform umziehen, die den Ansprüchen in den darauffolgenden 30 Jahren gerecht wird. Während anfangs die Selbstbestimmtheit im Vordergrund steht, kann mit jedem weiteren Lebensjahrzehnt der Wunsch nach vermehrter Unterstützung aufkommen und diese modulartig „hinzugebucht“ werden – und das am besten in ein- und demselben Quartier, dem identischen Gebäudekomplex etc. – Wohlfühlfaktor und Hotel-Ambiente vorausgesetzt. Pflege-Begrifflichkeiten waren gestern, Senior Living, Serviced Living, Service-Wohnen uvm. sind die „Hot Topics“ der Gegenwart und Zukunft.

»
Vielleicht mag man mit 65 Jahren noch einmal in eine Wohnform umziehen,
die den Ansprüchen in den darauffolgenden 30 Jahren gerecht wird.
»

Professionelle Fachkräfte & Junge Wilde

Unternehmen sollten den Blick aber nicht nur auf die konsumfreudigen Best Agers selbst, sondern auch auf die Menschen richten, die als professionelle Mitarbeiter das Leben des potenziellen Seniors ab einem bestimmten Zeitpunkt unterstützen. Gerade in Zeiten des Fachkräftemangels scheint das Thema Arbeitgeber-Attraktivität wichtiger denn je. Unternehmen müssen sich überlegen, wie man sowohl die bestehenden – zum Teil noch sehr traditionell denkenden Fachkräfte – bei einem Überangebot von Arbeitsplätzen hält, als auch junge Nachwuchskräfte bindet, welche digital-affin aufgewachsen sind und diese Haltung auch von ihrem Arbeitgeber erwarten. Innovative Unternehmen haben bei den „jungen Wilden“, wie sie teilweise genannt werden, die Nase vorn – sei es, weil sie die entsprechende technische Ausstattung in den Häusern oder Work-Life-Balance-Modelle anbieten. Davon profitieren nicht nur einzelne Anbieter, sondern der gesamte Seniorenmarkt.

Bewohnerin & herzliche Mitarbeiterin

»Unternehmen sollten nicht nur die konsumfreudigen Best Agers im Blick haben, sondern auch die professionellen Mitarbeiter, die das Leben von Menschen im Alter unterstützen.«

Entstereotypisierung von Ageing bis Pflege: Beitrag der Unternehmen

Anbieter von Produkten und Dienstleistungen bewegen sich also in einem Spagat aus der Beantwortung unterschiedlicher Bedürfnisse auf Seiten derer, die Unterstützung anfragen (Kunden) und derer, die Unterstützung anbieten (Mitarbeitende): was benötigt die eher anspruchslose Generation von früher im Hier und Jetzt und was fordern die Individualisten von heute in Zukunft?

In der Beantwortung dieser Frage wird auch die MARKE eine bedeutende Rolle spielen. Marken müssen das angestaubte Image der „Alten“ entstereotypisieren, Ästhetik und Lifestyle in den Vordergrund stellen und zeigen, dass Alter(n) keine Grenzen kennt. Um es in den Worten der Autorin Susan Wilner Golden zu sagen: STAGE NOT AGE. Vielleicht auch ein Lesetipp für den restlichen Sommer… (Stage (Not Age): How to Understand and Serve People Over 60–the Fastest Growing, Most Dynamic Market in the World).

Stephanie Hollaus

Stephanie Hollaus ist seit 17 Jahren als Marktforscherin im Gesundheitswesen tätig, seit 2014 auch für die Weiterentwicklung der alternden Gesellschaft einschließlich Pflege in Deutschland. Bis heute ist ihr im Beruf das Analysieren von Bedürfnissen und Meinungen der Menschen – und hier vor allem von vulnerablen Zielgruppen – eine Herzensaufgabe.
Unsere Autoren